Mont Ventoux - Hölle und Himmel 238,1 km / 6747 Hm
Redaktionell bestätigte Tour von Renko
Von Renko –
Drei Tage in Bédoin, 5. - 7. Aug 2010
Was gibt es eigentlich noch über den Mont Ventoux zu schreiben? Viele Radler sind schon auf dem sommet gestanden, wer nicht hat sicher schon von ihm reichlich gelesen und gehört.
In die klassische Radtour der französischen Alpen, die Nord-Süd Rad-Autobahn Route des Grandes Alpes, lässt sich der Géant de Provence schlecht integrieren, da er genau 183km westlich vom RdGA-Pässemekka Barcelonnette entfernt liegt. Von der Festival-Stadt Avignon dagegen sind es nur gerade 40 Kilometer, und Avignon liegt auf den Hauptverkehrsrouten von Nordeuropa nach den Pyrenäen.
So entstand im 2005 die erste Begegnung mit dem Vontoux. Nach Durchfahrt der Pyrenäen und der Strecke Perpignan - Rhone-Delta näherte ich langsam Bédoin. Vor mir schon von weit weg sichtbar der grosse Berg mit dem weissen Gipfel, hinter mir zunehmende Gewitterwoken.
Das Gewitter erreicht schliesslich den Camping in Bédoin, aber nur wenig Regen fällt. Am nächsten morgen ist es so tüppig wie in den Tropen, die Region ist wolkenverhangen.
Ich fahre los, verzichte auf Café-und-Croissant-Pause. Es gibt keinen Schwung, ich komme nur sehr schleppend voran, Frust baut sich auf. Nach der Linkskehre taucht die Strasse in den Wald: hier beginnt die berühmte Steilstrecke. 500m später komme ich entsetzt zum Stillstand.
Völlig verschwitzt, ziehe ich Bekleidung ab, esse die letzten zwei Energieriegel, trinke, und fahre dann los. Ich leide heftig im tropisch wirkenden Wald, erst in 1000m Höhe kommt langsam etwas Schwung in die Sache.
Oberhalb des Chalet Rexnard in der Steinwüste kommt der Frust raus, ich fahre so hart ich kann und überhole trotz Gepäcks zwei andere Rennradler. Sehr windig und kalt, wolkenverhangen präsentiert sich der sommet, nach kurzer Pause fahre ich ab nach Sault und zum nächsten Teil des Radabenteuers: Barcelonnette, Parpaillon, Cayolle, Morti, Agnel...
Aber die Demütigung der unteren Passage bleibt, wie auch der Wunsch, den Berg wolkenfrei zu erleben.
Im 2010 nach dreiwöchiger Radtour in den Pyrenäen habe ich noch ein paar vorhandene Tage, den windigen Berg wieder zu besuchen.
Die Bedingungen sind allerdings anders: seit drei Tagen herrscht starker Nordwestwind über Frankreich mit Sonne aber unterdurchschnittllichen Temperaturen. Der Winde wegen nehme ich von Narbonne bis Avignon den Zug. Die 40 Kilometer nach Bédoin sind sonnig und angenehm warm, aber... der Wind!
Was gibt es eigentlich noch über den Mont Ventoux zu schreiben? Viele Radler sind schon auf dem sommet gestanden, wer nicht hat sicher schon von ihm reichlich gelesen und gehört.
In die klassische Radtour der französischen Alpen, die Nord-Süd Rad-Autobahn Route des Grandes Alpes, lässt sich der Géant de Provence schlecht integrieren, da er genau 183km westlich vom RdGA-Pässemekka Barcelonnette entfernt liegt. Von der Festival-Stadt Avignon dagegen sind es nur gerade 40 Kilometer, und Avignon liegt auf den Hauptverkehrsrouten von Nordeuropa nach den Pyrenäen.
So entstand im 2005 die erste Begegnung mit dem Vontoux. Nach Durchfahrt der Pyrenäen und der Strecke Perpignan - Rhone-Delta näherte ich langsam Bédoin. Vor mir schon von weit weg sichtbar der grosse Berg mit dem weissen Gipfel, hinter mir zunehmende Gewitterwoken.
Das Gewitter erreicht schliesslich den Camping in Bédoin, aber nur wenig Regen fällt. Am nächsten morgen ist es so tüppig wie in den Tropen, die Region ist wolkenverhangen.
Ich fahre los, verzichte auf Café-und-Croissant-Pause. Es gibt keinen Schwung, ich komme nur sehr schleppend voran, Frust baut sich auf. Nach der Linkskehre taucht die Strasse in den Wald: hier beginnt die berühmte Steilstrecke. 500m später komme ich entsetzt zum Stillstand.
Völlig verschwitzt, ziehe ich Bekleidung ab, esse die letzten zwei Energieriegel, trinke, und fahre dann los. Ich leide heftig im tropisch wirkenden Wald, erst in 1000m Höhe kommt langsam etwas Schwung in die Sache.
Oberhalb des Chalet Rexnard in der Steinwüste kommt der Frust raus, ich fahre so hart ich kann und überhole trotz Gepäcks zwei andere Rennradler. Sehr windig und kalt, wolkenverhangen präsentiert sich der sommet, nach kurzer Pause fahre ich ab nach Sault und zum nächsten Teil des Radabenteuers: Barcelonnette, Parpaillon, Cayolle, Morti, Agnel...
Aber die Demütigung der unteren Passage bleibt, wie auch der Wunsch, den Berg wolkenfrei zu erleben.
Im 2010 nach dreiwöchiger Radtour in den Pyrenäen habe ich noch ein paar vorhandene Tage, den windigen Berg wieder zu besuchen.
Die Bedingungen sind allerdings anders: seit drei Tagen herrscht starker Nordwestwind über Frankreich mit Sonne aber unterdurchschnittllichen Temperaturen. Der Winde wegen nehme ich von Narbonne bis Avignon den Zug. Die 40 Kilometer nach Bédoin sind sonnig und angenehm warm, aber... der Wind!
Ein gefahrener Pass
Mont VentouxGesamtstrecke
Einzelstrecken
Von Renko –
Mont Ventoux doppio - die Hölle
Es ist kurz nach sechs, ich liege auf steinhartem Boden, die ultraleichte Matratze hat keine Luft mehr drin.
Schnell aus dem Zelt, duschen, dann anziehen. Wenig nach sieben steige ich aufs Rad und radle ins Zentrum von Bedouin.
Der Himmel ist klar, der Berg dagegen in Wolken verhüllt. Hier unten ist es windstill, aber weiter oben?
Zuerst tauche ich in die Bäckerei und kaufe Frühstück. Dann auf der Terasse essen, der obligatorische Kaffee, ohne Kaffee beginnt weder Arbeitstag noch Radtag...
Die vorletzte Nacht hatte ich bei Montpelier verbracht, am nächsten Morgen dann endlich im Meer schwimmen. Dann Zugreise bis Avignon...
Von dort wollte ich ursprünglich bis Saut fahren, aber der Nordwind war sehr stark, schliesslich wählte ich widerwillig Bedouin.
Nach gemütlicher Kaffeepause geht es nach 2005 zum zweiten Mal die Strecke in Richtung Gipfel hoch, die ersten Kilometer verlaufen recht locker. Schon die ersten Radler überholen mich, aber im Gegensatz zu ihnen fahre ich nicht einmal schnell hoch, sondern hoffentlich dreimal...
Die scharfe Kehre nach links, dann beginnt der Anstieg. Bald passiere ich eine bekannte Stelle, dort kam ich im 2005 ebenfalls nach Übernachtung am Camping Bedouin zum Stillstand. Heute dagegen rollt es sehr angenehm. Wieso denn der grosse Unterschied in der Tagesform?
Weiter hinauf. Steil, aber konstant steil. Der Rythmus passt prima, ich fahre bewusst innerhalb der Konfortzone, werde stetig überholt. Macht nichts... Links biegt die urasphaltierte Strasse, die den Südhang quert, unterhalb des Gipfels auf der Nordseite in die Malaucine-Auffahrt einmündet und heute MTBern vorbehalten ist.
Der Wind greift plötzlich in den Wald hinunter. Ähm...abgeflaut hat er wohl nicht. Wie es oben sein wird?
Der Steilhang ist zu Ende, der Châlet Reynard nähert. Plötzlich greift der Mistral wieder hinunter.
Nun geht es die letzten sechs Kilometer hoch. Vor fünf Jahren war der Wind auch schon recht kräftig am Schluss, besonders unterhalb des Gipfels. Und kalt auch: der Gegensatz zur Ebene der Provençe muss man erlebt haben. Heute ist der Wind schon in den ersten Metern nach dem Châlet sehr präsent. Kopf runter, fest drücken in die Pedale. Der Wind ist richtig böse, aber der Tag ist jung, der Radler voller Pain au Chocolat...
Oben ist es kalt und wolkenverhangen. Gelegentlich lichtet sich die Suppe, bietet scheue Blicke hinab nach Süden. Das Kiosk bietet Schutz vor dem wilden Wetter und Wärme. Ist es wirklich ein Hochsommertag???
Pause vorbei. Was jetzt? Zuerst runter nach Mauluciene und dann wieder hoch? Oder wieder zum Châlet und runter nach Sault? Für letztere entscheide ich, da ich lieber mit der härteren Auffahrt den Tag beenden will. Wenn schon, denn schon...oder auf Englisch "in for a penny, in for a pound"...
Der Beginn der Abfahrt ist schon sehr heikel, abschnittsweise kommt der linke Fuss sicherheitshalber aus dem Pedal. Die Radler in der Auffahrt haben jetzt sichtlich Mühe. Hinter dem Châlet wird es deutlich angenehmer, auch ein nettes Stück wärmer, allerdings ist der Strassenzustand recht holprig. 20km später ist dann Sault erreicht.
Schön ist es in Sault, ich sitze im Sonnenschein vor dem Supermarkt. Brot und Käse, Rohschinken, Limonade. Der Sonnenschein ist wunderschön. Weht aber der Wind, so ist es unangenehm kalt. Ist es wirklich August? Frühaugust? Kann es in 800m Höhe im Hochsommer hier in der Provence wirklich so frisch sein? Zwei Tage zuvor war ich am Côte d'Azur (zu) früh wach, weil es auch dort sehr kühl war, ja dort an der Mittelmeerküste. Der Sommer 2010 stimmt nicht, immer wieder goss es in den Pyrenäen, und wenn nicht, dann war es zum Teil brütend heiss.
Die drei Wochen in den Pyrenäen sind vergangen, der zweite Besuch dort. Im 2005 war ich wie neugeboren, wie ein Kind auf einem grossen Abenteuer, von Biarritz auf dem Weg zum Ötztaler Radmarathon in Sölden. Das alles war ein grosser Traum, Pässe ohne Ende, einfach jeden Tag neue, von der TdF bekannte Aufstiege. Und Top-Wetter: von Arette in den westlichen Pyrenäen bis zum Val Maira in den Cottischen Alpen von Piemonte nur Sonne und meist recht erträgliche Hitze. Erstmals Aubisque, Tourmalet, Pailhères, Ventoux, Parpaillon, Morti, Agnel. Gibt es ein grösseres Abenteuer in Europa als das Fahrrad über die Alpenpässe zu fahren? Ich meine, höchstens ein Inter-Rail Urlaub mit täglich neuen europäischen Grossstädten könnte mitmachen.
Diesmal war alles ein wenig anders. In Spanien gab es Tage wo ich nur mit Mühe vor dem Mittag losfuhr. In Jaca hätte ich gerne einen Tag verbracht. Die Zeichen sind klar: der Mensch hat nicht mehr die Motivation wie früher, die Wandlung in einen Genussfahrer ist unübersehbar. Vielleicht in uns liegen die beiden Elemente: Kampfradler und Genussradler? Und in jeder Person sind die zwei Elemente unterschiedlich vertreten, und ändern sich mit den Jahren - eher zu Gunsten des letzteren?
Oder: ohne Abenteuer keine Motivation? Jeder hat seine eigenen Quellen von Motivation: manchmal in sich selber, manchmal von aussen. Und wieder Kombinationen von beiden?
Mit mir habe ich ein Buch aus Zürich gebracht. Es ist das meine geschätzte Kopie des preisgekrönten Buchs von Mischa Glenny, "The Fall of Yugoslavia", das das traurige Ende des Vielvölkerstaates von 1991 bis 1994 dokumentiert. Dort ist es wieder ruhiger, wäre das eine Möglichkeit, die richtige Mischung aus Bergen und Abenteuer? Oder der Kaukasus, auch wenn die nördlichen Republiken östlich von Ossetien wohl wieder für viele Jahre unerreichbar sein werden? "Die Geschichte wiederholt sich", hat mir mal ein Tschetschene gesagt. Fünfzig Jahre Krieg, fünfzig Jahre Frieden. Jetzt nur noch 35 Jahre Krieg?
Der Balkan dagegen wäre wieder friedlich. Oder Tibet? Abenteuerlust flammt auf: ohne Abenteuer keine Motivation. Oder: lieber nimmt man die Chancen, solange es sie gibt? Tibet, der Balkan, Südamerika, die Geschichte ist ja ungeschrieben. Lieber heute als morgen? Morgen in Tibet gibt es nur noch in Gruppen, bis 2008 hätte es "solo" geklappt. Lieber heute als morgen...
Oder vielleicht der Raid Pyrenéen, vom Atlantik bis zum Mittelmeer in 100 Stunden? Das könnte mit Gleichgesinnten spannend sein, wie auch die Route des Grandes Alpes. Oder wie im 2011 als Guide für Freunde aus Übersee? Etwas Wissen zurückschenken?
Halb eins ist es, höchste Zeit um wieder auf den Ventoux zu fahren. Kurz von der Kleinstadt runter, und dann beginnt die Überquerung der Ebene zum Wald un dem holprigen Aufstieg. Die böse Überraschung: auch hier hat sich der frische Nordwind deutlich erkennbar gemacht, und nun als Gegenwind. Ich radle bei nur 3% Steigung, aber die Sache kostet jede Menge Energie, der Wald kann nicht schnell genug kommen.
Die holprige Strasse nervt, gelegentlich greift der Wind durch den Wald hinunter. Aber trotzdem: die Ruhe vor dem Sturm? Aus dem Wald getaucht, ist der Châlet gerade erreicht. Eine kleine Pause, ein Cola, die nötige Energie für den Gipfelsieg...
Pause vorbei. Der Wind greift schon recht kräftig hier hinunter. Nun geht es auf den Gipfel. Aber wie wird es weiter oben sein? Na ja, Stürme flauen immer schliesslich ab. Am Mont Ventoux dagegen können Stürme immer und immer stärker werden...
Es ist ein Traum. Die Strasse hat eine Steigung von sechs oder sieben prozent. Der Tag ist angenehm warm und windstill, der Radler im Element. Den Lenker hält er nicht fest, sondern ganz locker: mal bei sich, beiderseits des Tachometers, mal auf den Kurven des Lenkers, mal locker und entspannt vorne, an den schwarzen Gummigriffen oberhalb der Brems- und Schalthebel. Er spricht mit dem nächsten Radler, locker geht das, man tauscht Geschichten, Heldentaten, Erfahrungen aus. Die Geschwindigkeit liegt bei komfortabler 10km/h, der Puls bei 120. Zur Abwechslung geht der Radler ab und zu in den Wiegetritt, nicht dass es einem mal unbequem werden sollte! Ruhe, Friede, Genuss.
Hier, an diesem Tag, im August 2010, in den Wiegetritt gehen heisst zwangsweise das Ende: schlägt die nächste Böe von der Seite her, so wird der Radler entweder rechts in die Wasserrinne mit dem steinigen Hintergrund und Hang umgeworfen, oder noch schlimmer links über den Strassenrand hinweg in den Abgrund. Schlägt die nächste Böe frontal ein, so riskiert der stehende Radler, rückwärts umgekippt zu werden.
Der Radler muss sitzen, aber das ist längst nicht die einzige Bedingung. Der Kopf bleibt nicht oben, sondern hält der Radler die Schnauze möglichst nahe zum Lenker - der Aerodynamik wegen. Der Radler hat ein tolles Werkzeug, 30 Gänge, das entschärft auch die steileren Strassen, er hat ja seine Knie gerne und möchte noch viele Jahre fahren. Der Radler ist ja erfreulich weitsichtig. Aber die "Hamsterrad-Gänge" nutzen heute nichts, da wird man ebenfalls umgekippt, instinktiv weiss der Radler, dass eine kräftigere Übersetzung mit tieferer Kadenz nötig ist. Die Mini-Gänge dagegen machen ihn instabil, und dann gewinnt der Wind.
Und eine lockere Haltung am Lenker ist aus, der Radler hat seine Hände nur noch in einer Position: auf den Gummigriffen ganz vorne, und von einer lockeren Haltung is auch nichts mehr, er hält ganz schön fest an dem Lenker, denn er wird dem nächsten Seitenschlag trotzen müssen.
Immer und immer wieder schlagen die Windböen ein. Die Strasse biegt nun nach links, und auf einmal herrscht windstille.
Der Radler hat sein Gehirn eingeschaltet, und merkt wie er sich an die einmaligen Bedingungen zu gewöhnen vermag. Haben wir nicht deswegen die Erde mit seinen verschiedensten klimatischen Bedingungen erobert? Der Wind hat nicht nur massiv an Stärke zugenommen, sondern hat von Nordwesten auf Nord gedreht. Die längere, nach Westen oder Nordwesten hin führenden Abschnitte sind nun entlastet und zumindest etwas geschützt. Ich atme ein, bereite mich auf den nächsten nach Norden führenden Abschnitt vor...
Dann Rechtskurve, dann folgt der nächste Abschnitt. Der heulende Mistral meldet sich sofort, Mont Ventoux, le Géant, ist richtig wütend heute. Musik spielt im Kopfhörer, das Lied kenne ich prima: zwei Minuten gespielt, noch zwei. Das gibt Haltung hier in der windigen Hölle. Vom Plan, Energie für die dritte Auffahrt zu sparen bin ich schon längst abgekommen. Selbst der Gipfel ist nicht mehr das Ziel, sondern nur das Ende dieses Teilstücks und die rettende Kurve nach links, nach Nordwesten.
Kopf runter bis auf den Lenker, dritter Gang, ich fahre trotz des Gegenwinds bei 12km/h, diese Leistung kann ich nur für kurze Zeit halten. Die Dynamik, die Bedingungen verlangen das, ich darf instinktiv nicht langsamer fahren, da komme ich bei der nächsten Böe zum Stillstand. Man braucht Geschwindigkeit, dafür braucht man aber viel Energie.
Plötzlich wird alles sehr einfach. Ich kann eine maximale Leistung von "x" erbringen. Das ergibt eine bestimmte Menge Momentum. Erbringt die nächste Böe ein höheres Momentum, gewinnt der Sturm. Wenn tiefer, gewinne ich. Alles wird plötzlich sehr sehr simpel.
Der Wind heult und heult. Und lässt ein wenig nach. Vor mir laufen zwei Mountainbiker. Ich vermute, dass der breite Lenker und die Hamster-Gänge in solchen Bedingungen nachteilhaft wirken. Mich überholt ganz langsam ein anderer Rennradler, sein Kopf ebenfalls ein Zentimeter oberhalb des Lenkers. Ich hatte mit der Position denn recht? Man braucht sich nicht zu begrüssen, er fährt mir langsam vorbei.
Ich radle noch mit 12km/h, wachsam wie ein Tier, wie nahe wir an unseren tierischen Vorfahren sind...
Die nächste Böe schlägt frontal ein. Ich drücke so fest in die Pedale wie ich kann, aber es reicht einfach nicht, ich hole die letzten Reserven, aber die Luft ist wie eine Wand, sie hat eine ungeheurige Energie, ich habe so was noch nie erlebt, und kann kaum atmen. Selbst ein Horrortag von Bellinzona zum San Bernardino gegen den Nordföhn wirkt zahm im Gegensatz. Ich bin beinahe auf Stillstand abgebremst...und der Wind flaut ab.
Die Geschwindigkeit erholt sich wieder, ich fühle mich erschüttert. Die Strasse dreht wieder nach links, nach Westen, der Wind flaut gehorsam ab. Nun stosst er von hinten plötzlich her und treibt die Geschwindigkeit kurzzeitig auf 16 km/h. Das Gehirn beginnt wieder zu funktionieren: Puls runterkommen lassen, danach folgt der letzte exponierte Abschnitt. Am Schluss davon liegt der Col des Tempêtes, dann die letzte hoffentlich windgeschützte Rampe vor der letzten Kehre. Wenn es nicht klappt, dann wohl im kommenden Abschnitt.
Der Schutz ist wieder vorbei, der Wind heult wieder: von vorne, von der Seite. Aber man lernt: den Bedingungen bisher erfolgreich getrotzt zu haben schiesst neue Energie in die Muskeln. Kopf runter, Böen von allen Seiten, der Col des Tempêtes nähert. Welch eine Auffahrt!! Ich kann nur grinsen. Der Wind schlägt gewaltig von der Seite her, gut dass keine Autos entgegen kommen, aber mehr Angst habe ich vor den entgegenkommenden Radfahrern, sie haben genau die gleichen Schwierigkeiten wie ich, fahren aber schneller. Der Col ist geschafft, links in eine windstille Oase, die letzte Rampe. Steiler ist es auch hier, ich hole Sauerstoff in die Lungen, nur noch die scharfe Rechtskehre am Schluss, dann die Rettung des Gipfelkiosks.
Die 180 Grad Kehre könnte recht heikel sein, vermute ich. Die komplette Richtungswechsel wird schwierig zu meistern sein. Ich vermute, das Innere der Kehre bringt nur das was die Russen "ewige Trauer" nennen: zu einfach könnte man umgekippt werden. Dort gibt es keine Schutzmauer, man könnte gar über den Rand auf die untere Strasse umgeworfen werden. Lieber der Aussenrand der Kehre und hoch zum Kiosk. DIe letzten Sekunden, der Wind heult direkt über meinem Kopf...
Ich schwenke nach draussen, fahre mit voller Kraft in die Kehre. Trotz aller Vorwarnungen überrascht mich die Stärke des Winds, er spuckt mich in die untere, das Kiosk und den Turm umfahrene Strasse. Gegen die Stutzmauer komme ich zum Stillstand und steige rasch ab.
Auch hier gibt es kaum noch Schutz. Ich habe Mühe zu stehen. Eine Mutter mit Kind schützt sich vor dem Wut des Sturms. Zwei kurze Fotos, der Berg ist ja erstmals wolkenfrei, das habe ich kaum wahrgenommen.
Nach fünf Minuten ist es mir zu kalt, ich laufe die Strasse bis zum Beginn der Abfahrt nach Norden. Der Wind ist so stark, dass ich mich nicht getraue aufs Fahrrad zu steigen.
Am Parkplatz auf der Nordseite sind noch etliche Leute. Auch Radfahrer sind hier. Aber ich spüre Gefahr hier oben, mir ist es nun auch richtig kalt wie im Winter und ich habe keine Jacke dabei. Ein paar Schritte und der Wind lässt nach. Ich steige aufs Fahrrad und beginne den ersten Abschnitt der Nordseite. Rechte Fuss eingeclickt, aber der linke bleibt draussen, viel stabiler wirkt es.
Und dann folgt die Abfahrt nach Maulcéne. Immer wieder schlägt der Nordwind ein, der heikelste Moment ist gerade ein Kilometer vor dem Ende. Und dann ist das Städtchen erreicht...
Ich sitze auf einer Café-Terrasse, geniesse die beste Erfindung der Vereinigten Staaten - was die Franzosen nennen "uncocá", Betonung auf der letzten Silbe. Der Sonnenschein ist heiss und äusserst willkommen: ich habe viel Kälte oben und in der Abfahrt eingenommen. Aber sobald ich mich wieder angenehm warm fühle, greift der Nordwind wieder durch, treibt Staub in die Augen der Fussgänger, wirft Restaurant-Stühle um. Dann beginnt die Erwärmung erneut...
Es ist viertel vor fünf. Auf mich wartet die neue unbekannte Auffahrt, die Nordauffahrt zurück auf den Géant. Der triplo ruft. Aber ich zögere.
Oben hatte ich Angst. Man befindet sich dort in einer Lage, in der man keine Erfahrung hat. Menschen geraten in Schwierigkeiten in den Bergen aus genau diesem Grund. Ich weiss nicht, ob der Sturm jetzt nachlässt oder ob er noch weiter zunehmen wird. Oder schon zugenommen hat?
Mangelnde Erfahrung...in Davos fuhren mal drei naive Snowboarder abseits der Piste und lösten eine grosse Lawine aus. Glücklicherweise riss der Schnee 30 Meter unterhalb der Snowboarder, die mit dem Schrecken davon kamen. Einer war ich, der Jahre später einen Wetterwechsel in Zermatt von Sonne zum Blizzard in zwei Stunden erlebte und auf dem Klein Matterhorn-Gletscher die Piste verlor.
Hier auf der Terrasse wirken diese Erfahrungen, dort oben auf dem Ventoux muss man eigentlich nicht wieder. Noch dazu war es mit lediglich neun Grad sehr kalt, in zwei Stunden wird es noch kälter sein und zudem ohne Sonne. Dann eine bitterkalte Abfahrt nach Bédoin?
Bei kalter Witterung radzufahren ist nicht unmöglich, ich habe es gern, aber es gibt ein paar Bedingungen. In der Abfahrt braucht man trockene Haut und Bekleidung. Die habe ich nicht mit dabei. Aber vor allen Dingen braucht man die absolute Kontrolle über die Situation, und die absolute Sicherheit, dass man einen warmen Unterkunft hat. In Zürich kann ich mich voll auf die Wärme der Wohnung verlassen, darum kann ich dort im Winter fahren. In den Alpen gilt das Gleiche mit den Hotels. Hier dagegen bin ich an einem Camping ohne geschlossene Räume, das Restaurant ist "open air", schon am Vorabend hatte ich kalt. Das könnte mit fortschrittlicher Müdigkeit heute Abend recht unangenehm werden.
Die Zeit vergeht und schliesslich siegt die Vernunft. Im 2005 hätte ich nicht gezögert, die Heldentat triplo zu holen. Man ändert sich halt mit den Jahren...
Hierher bin ich gekommen, um eben diese Nordauffahrt kennenzulernen. Am Schluss kenne ich sie nur als Abfahrt. Etwas genervt, zahle ich und steige aufs Rad.
Die Strasse nach Carpentras steigt sanft an ausserhalb von Maulcéne. Dann biegt die Verbindungsstrasse nach Bédoin ab.
Zur Freude ist die Strasse neulich asphaltiert und befindet sich in einem tadellosen Zustand. Vielleicht die einzige solche Strasse in der gesamten Provence? Die Strasse steigt weiterhin sehr bequem an, der Wind ist hinter mir, die Sonne vor mir. Tolle Baumarten gibt es, Arten die wir Nordeuropäer nicht kennen. Meine Laune wird immer besser.
Zudem gibt es auch ein Passschild - dies ist eine Passstrasse! Nicht einmal 450m, und so eine tolle Stimmung! Leicht senkt sich die Strasse ab, leicht steigt sie wieder an. Dann eine Linkskurve, und die gesamte Ebene hinter Bédoin ist sichtbar. Wunderschön!
Der Camping ist erreicht, ich dusche, entspanne mich, dann esse. Der Kreislauf arbeitet noch auf Hochtouren, der Apéritif wirkt wie drei Liter Bier. Essen, dann "un café monsieur?" Ich erwidere, "Oui, mais sans plomb" (bleifrei). SIe versteht nicht, ich erkläre, eben "wie Benzin" (koffeinfrei). Sie lacht recht herzlich. Jemand hat einmal gesagt, wenn eine Person lacht, sieht man direkt in den Charakter, sei die Person charmant, kalt, verbittert, rücksichtslos, ungezähmt usw.
Dann zurück zum Mini-Zelt. Der Boden ist aus steinharter Erde, die ultraleichte Matratze verliert die Luft nach einiger Zeit, aber ich schlafe beinahe ungestört. Ein toller Tag, an dem man vor allen Dingen froh ist, heil heimzukommen. Halt kein triplo...
Es ist kurz nach sechs, ich liege auf steinhartem Boden, die ultraleichte Matratze hat keine Luft mehr drin.
Schnell aus dem Zelt, duschen, dann anziehen. Wenig nach sieben steige ich aufs Rad und radle ins Zentrum von Bedouin.
Der Himmel ist klar, der Berg dagegen in Wolken verhüllt. Hier unten ist es windstill, aber weiter oben?
Zuerst tauche ich in die Bäckerei und kaufe Frühstück. Dann auf der Terasse essen, der obligatorische Kaffee, ohne Kaffee beginnt weder Arbeitstag noch Radtag...
Die vorletzte Nacht hatte ich bei Montpelier verbracht, am nächsten Morgen dann endlich im Meer schwimmen. Dann Zugreise bis Avignon...
Von dort wollte ich ursprünglich bis Saut fahren, aber der Nordwind war sehr stark, schliesslich wählte ich widerwillig Bedouin.
Nach gemütlicher Kaffeepause geht es nach 2005 zum zweiten Mal die Strecke in Richtung Gipfel hoch, die ersten Kilometer verlaufen recht locker. Schon die ersten Radler überholen mich, aber im Gegensatz zu ihnen fahre ich nicht einmal schnell hoch, sondern hoffentlich dreimal...
Die scharfe Kehre nach links, dann beginnt der Anstieg. Bald passiere ich eine bekannte Stelle, dort kam ich im 2005 ebenfalls nach Übernachtung am Camping Bedouin zum Stillstand. Heute dagegen rollt es sehr angenehm. Wieso denn der grosse Unterschied in der Tagesform?
Weiter hinauf. Steil, aber konstant steil. Der Rythmus passt prima, ich fahre bewusst innerhalb der Konfortzone, werde stetig überholt. Macht nichts... Links biegt die urasphaltierte Strasse, die den Südhang quert, unterhalb des Gipfels auf der Nordseite in die Malaucine-Auffahrt einmündet und heute MTBern vorbehalten ist.
Der Wind greift plötzlich in den Wald hinunter. Ähm...abgeflaut hat er wohl nicht. Wie es oben sein wird?
Der Steilhang ist zu Ende, der Châlet Reynard nähert. Plötzlich greift der Mistral wieder hinunter.
Nun geht es die letzten sechs Kilometer hoch. Vor fünf Jahren war der Wind auch schon recht kräftig am Schluss, besonders unterhalb des Gipfels. Und kalt auch: der Gegensatz zur Ebene der Provençe muss man erlebt haben. Heute ist der Wind schon in den ersten Metern nach dem Châlet sehr präsent. Kopf runter, fest drücken in die Pedale. Der Wind ist richtig böse, aber der Tag ist jung, der Radler voller Pain au Chocolat...
Oben ist es kalt und wolkenverhangen. Gelegentlich lichtet sich die Suppe, bietet scheue Blicke hinab nach Süden. Das Kiosk bietet Schutz vor dem wilden Wetter und Wärme. Ist es wirklich ein Hochsommertag???
Pause vorbei. Was jetzt? Zuerst runter nach Mauluciene und dann wieder hoch? Oder wieder zum Châlet und runter nach Sault? Für letztere entscheide ich, da ich lieber mit der härteren Auffahrt den Tag beenden will. Wenn schon, denn schon...oder auf Englisch "in for a penny, in for a pound"...
Der Beginn der Abfahrt ist schon sehr heikel, abschnittsweise kommt der linke Fuss sicherheitshalber aus dem Pedal. Die Radler in der Auffahrt haben jetzt sichtlich Mühe. Hinter dem Châlet wird es deutlich angenehmer, auch ein nettes Stück wärmer, allerdings ist der Strassenzustand recht holprig. 20km später ist dann Sault erreicht.
Schön ist es in Sault, ich sitze im Sonnenschein vor dem Supermarkt. Brot und Käse, Rohschinken, Limonade. Der Sonnenschein ist wunderschön. Weht aber der Wind, so ist es unangenehm kalt. Ist es wirklich August? Frühaugust? Kann es in 800m Höhe im Hochsommer hier in der Provence wirklich so frisch sein? Zwei Tage zuvor war ich am Côte d'Azur (zu) früh wach, weil es auch dort sehr kühl war, ja dort an der Mittelmeerküste. Der Sommer 2010 stimmt nicht, immer wieder goss es in den Pyrenäen, und wenn nicht, dann war es zum Teil brütend heiss.
Die drei Wochen in den Pyrenäen sind vergangen, der zweite Besuch dort. Im 2005 war ich wie neugeboren, wie ein Kind auf einem grossen Abenteuer, von Biarritz auf dem Weg zum Ötztaler Radmarathon in Sölden. Das alles war ein grosser Traum, Pässe ohne Ende, einfach jeden Tag neue, von der TdF bekannte Aufstiege. Und Top-Wetter: von Arette in den westlichen Pyrenäen bis zum Val Maira in den Cottischen Alpen von Piemonte nur Sonne und meist recht erträgliche Hitze. Erstmals Aubisque, Tourmalet, Pailhères, Ventoux, Parpaillon, Morti, Agnel. Gibt es ein grösseres Abenteuer in Europa als das Fahrrad über die Alpenpässe zu fahren? Ich meine, höchstens ein Inter-Rail Urlaub mit täglich neuen europäischen Grossstädten könnte mitmachen.
Diesmal war alles ein wenig anders. In Spanien gab es Tage wo ich nur mit Mühe vor dem Mittag losfuhr. In Jaca hätte ich gerne einen Tag verbracht. Die Zeichen sind klar: der Mensch hat nicht mehr die Motivation wie früher, die Wandlung in einen Genussfahrer ist unübersehbar. Vielleicht in uns liegen die beiden Elemente: Kampfradler und Genussradler? Und in jeder Person sind die zwei Elemente unterschiedlich vertreten, und ändern sich mit den Jahren - eher zu Gunsten des letzteren?
Oder: ohne Abenteuer keine Motivation? Jeder hat seine eigenen Quellen von Motivation: manchmal in sich selber, manchmal von aussen. Und wieder Kombinationen von beiden?
Mit mir habe ich ein Buch aus Zürich gebracht. Es ist das meine geschätzte Kopie des preisgekrönten Buchs von Mischa Glenny, "The Fall of Yugoslavia", das das traurige Ende des Vielvölkerstaates von 1991 bis 1994 dokumentiert. Dort ist es wieder ruhiger, wäre das eine Möglichkeit, die richtige Mischung aus Bergen und Abenteuer? Oder der Kaukasus, auch wenn die nördlichen Republiken östlich von Ossetien wohl wieder für viele Jahre unerreichbar sein werden? "Die Geschichte wiederholt sich", hat mir mal ein Tschetschene gesagt. Fünfzig Jahre Krieg, fünfzig Jahre Frieden. Jetzt nur noch 35 Jahre Krieg?
Der Balkan dagegen wäre wieder friedlich. Oder Tibet? Abenteuerlust flammt auf: ohne Abenteuer keine Motivation. Oder: lieber nimmt man die Chancen, solange es sie gibt? Tibet, der Balkan, Südamerika, die Geschichte ist ja ungeschrieben. Lieber heute als morgen? Morgen in Tibet gibt es nur noch in Gruppen, bis 2008 hätte es "solo" geklappt. Lieber heute als morgen...
Oder vielleicht der Raid Pyrenéen, vom Atlantik bis zum Mittelmeer in 100 Stunden? Das könnte mit Gleichgesinnten spannend sein, wie auch die Route des Grandes Alpes. Oder wie im 2011 als Guide für Freunde aus Übersee? Etwas Wissen zurückschenken?
Halb eins ist es, höchste Zeit um wieder auf den Ventoux zu fahren. Kurz von der Kleinstadt runter, und dann beginnt die Überquerung der Ebene zum Wald un dem holprigen Aufstieg. Die böse Überraschung: auch hier hat sich der frische Nordwind deutlich erkennbar gemacht, und nun als Gegenwind. Ich radle bei nur 3% Steigung, aber die Sache kostet jede Menge Energie, der Wald kann nicht schnell genug kommen.
Die holprige Strasse nervt, gelegentlich greift der Wind durch den Wald hinunter. Aber trotzdem: die Ruhe vor dem Sturm? Aus dem Wald getaucht, ist der Châlet gerade erreicht. Eine kleine Pause, ein Cola, die nötige Energie für den Gipfelsieg...
Pause vorbei. Der Wind greift schon recht kräftig hier hinunter. Nun geht es auf den Gipfel. Aber wie wird es weiter oben sein? Na ja, Stürme flauen immer schliesslich ab. Am Mont Ventoux dagegen können Stürme immer und immer stärker werden...
Es ist ein Traum. Die Strasse hat eine Steigung von sechs oder sieben prozent. Der Tag ist angenehm warm und windstill, der Radler im Element. Den Lenker hält er nicht fest, sondern ganz locker: mal bei sich, beiderseits des Tachometers, mal auf den Kurven des Lenkers, mal locker und entspannt vorne, an den schwarzen Gummigriffen oberhalb der Brems- und Schalthebel. Er spricht mit dem nächsten Radler, locker geht das, man tauscht Geschichten, Heldentaten, Erfahrungen aus. Die Geschwindigkeit liegt bei komfortabler 10km/h, der Puls bei 120. Zur Abwechslung geht der Radler ab und zu in den Wiegetritt, nicht dass es einem mal unbequem werden sollte! Ruhe, Friede, Genuss.
Hier, an diesem Tag, im August 2010, in den Wiegetritt gehen heisst zwangsweise das Ende: schlägt die nächste Böe von der Seite her, so wird der Radler entweder rechts in die Wasserrinne mit dem steinigen Hintergrund und Hang umgeworfen, oder noch schlimmer links über den Strassenrand hinweg in den Abgrund. Schlägt die nächste Böe frontal ein, so riskiert der stehende Radler, rückwärts umgekippt zu werden.
Der Radler muss sitzen, aber das ist längst nicht die einzige Bedingung. Der Kopf bleibt nicht oben, sondern hält der Radler die Schnauze möglichst nahe zum Lenker - der Aerodynamik wegen. Der Radler hat ein tolles Werkzeug, 30 Gänge, das entschärft auch die steileren Strassen, er hat ja seine Knie gerne und möchte noch viele Jahre fahren. Der Radler ist ja erfreulich weitsichtig. Aber die "Hamsterrad-Gänge" nutzen heute nichts, da wird man ebenfalls umgekippt, instinktiv weiss der Radler, dass eine kräftigere Übersetzung mit tieferer Kadenz nötig ist. Die Mini-Gänge dagegen machen ihn instabil, und dann gewinnt der Wind.
Und eine lockere Haltung am Lenker ist aus, der Radler hat seine Hände nur noch in einer Position: auf den Gummigriffen ganz vorne, und von einer lockeren Haltung is auch nichts mehr, er hält ganz schön fest an dem Lenker, denn er wird dem nächsten Seitenschlag trotzen müssen.
Immer und immer wieder schlagen die Windböen ein. Die Strasse biegt nun nach links, und auf einmal herrscht windstille.
Der Radler hat sein Gehirn eingeschaltet, und merkt wie er sich an die einmaligen Bedingungen zu gewöhnen vermag. Haben wir nicht deswegen die Erde mit seinen verschiedensten klimatischen Bedingungen erobert? Der Wind hat nicht nur massiv an Stärke zugenommen, sondern hat von Nordwesten auf Nord gedreht. Die längere, nach Westen oder Nordwesten hin führenden Abschnitte sind nun entlastet und zumindest etwas geschützt. Ich atme ein, bereite mich auf den nächsten nach Norden führenden Abschnitt vor...
Dann Rechtskurve, dann folgt der nächste Abschnitt. Der heulende Mistral meldet sich sofort, Mont Ventoux, le Géant, ist richtig wütend heute. Musik spielt im Kopfhörer, das Lied kenne ich prima: zwei Minuten gespielt, noch zwei. Das gibt Haltung hier in der windigen Hölle. Vom Plan, Energie für die dritte Auffahrt zu sparen bin ich schon längst abgekommen. Selbst der Gipfel ist nicht mehr das Ziel, sondern nur das Ende dieses Teilstücks und die rettende Kurve nach links, nach Nordwesten.
Kopf runter bis auf den Lenker, dritter Gang, ich fahre trotz des Gegenwinds bei 12km/h, diese Leistung kann ich nur für kurze Zeit halten. Die Dynamik, die Bedingungen verlangen das, ich darf instinktiv nicht langsamer fahren, da komme ich bei der nächsten Böe zum Stillstand. Man braucht Geschwindigkeit, dafür braucht man aber viel Energie.
Plötzlich wird alles sehr einfach. Ich kann eine maximale Leistung von "x" erbringen. Das ergibt eine bestimmte Menge Momentum. Erbringt die nächste Böe ein höheres Momentum, gewinnt der Sturm. Wenn tiefer, gewinne ich. Alles wird plötzlich sehr sehr simpel.
Der Wind heult und heult. Und lässt ein wenig nach. Vor mir laufen zwei Mountainbiker. Ich vermute, dass der breite Lenker und die Hamster-Gänge in solchen Bedingungen nachteilhaft wirken. Mich überholt ganz langsam ein anderer Rennradler, sein Kopf ebenfalls ein Zentimeter oberhalb des Lenkers. Ich hatte mit der Position denn recht? Man braucht sich nicht zu begrüssen, er fährt mir langsam vorbei.
Ich radle noch mit 12km/h, wachsam wie ein Tier, wie nahe wir an unseren tierischen Vorfahren sind...
Die nächste Böe schlägt frontal ein. Ich drücke so fest in die Pedale wie ich kann, aber es reicht einfach nicht, ich hole die letzten Reserven, aber die Luft ist wie eine Wand, sie hat eine ungeheurige Energie, ich habe so was noch nie erlebt, und kann kaum atmen. Selbst ein Horrortag von Bellinzona zum San Bernardino gegen den Nordföhn wirkt zahm im Gegensatz. Ich bin beinahe auf Stillstand abgebremst...und der Wind flaut ab.
Die Geschwindigkeit erholt sich wieder, ich fühle mich erschüttert. Die Strasse dreht wieder nach links, nach Westen, der Wind flaut gehorsam ab. Nun stosst er von hinten plötzlich her und treibt die Geschwindigkeit kurzzeitig auf 16 km/h. Das Gehirn beginnt wieder zu funktionieren: Puls runterkommen lassen, danach folgt der letzte exponierte Abschnitt. Am Schluss davon liegt der Col des Tempêtes, dann die letzte hoffentlich windgeschützte Rampe vor der letzten Kehre. Wenn es nicht klappt, dann wohl im kommenden Abschnitt.
Der Schutz ist wieder vorbei, der Wind heult wieder: von vorne, von der Seite. Aber man lernt: den Bedingungen bisher erfolgreich getrotzt zu haben schiesst neue Energie in die Muskeln. Kopf runter, Böen von allen Seiten, der Col des Tempêtes nähert. Welch eine Auffahrt!! Ich kann nur grinsen. Der Wind schlägt gewaltig von der Seite her, gut dass keine Autos entgegen kommen, aber mehr Angst habe ich vor den entgegenkommenden Radfahrern, sie haben genau die gleichen Schwierigkeiten wie ich, fahren aber schneller. Der Col ist geschafft, links in eine windstille Oase, die letzte Rampe. Steiler ist es auch hier, ich hole Sauerstoff in die Lungen, nur noch die scharfe Rechtskehre am Schluss, dann die Rettung des Gipfelkiosks.
Die 180 Grad Kehre könnte recht heikel sein, vermute ich. Die komplette Richtungswechsel wird schwierig zu meistern sein. Ich vermute, das Innere der Kehre bringt nur das was die Russen "ewige Trauer" nennen: zu einfach könnte man umgekippt werden. Dort gibt es keine Schutzmauer, man könnte gar über den Rand auf die untere Strasse umgeworfen werden. Lieber der Aussenrand der Kehre und hoch zum Kiosk. DIe letzten Sekunden, der Wind heult direkt über meinem Kopf...
Ich schwenke nach draussen, fahre mit voller Kraft in die Kehre. Trotz aller Vorwarnungen überrascht mich die Stärke des Winds, er spuckt mich in die untere, das Kiosk und den Turm umfahrene Strasse. Gegen die Stutzmauer komme ich zum Stillstand und steige rasch ab.
Auch hier gibt es kaum noch Schutz. Ich habe Mühe zu stehen. Eine Mutter mit Kind schützt sich vor dem Wut des Sturms. Zwei kurze Fotos, der Berg ist ja erstmals wolkenfrei, das habe ich kaum wahrgenommen.
Nach fünf Minuten ist es mir zu kalt, ich laufe die Strasse bis zum Beginn der Abfahrt nach Norden. Der Wind ist so stark, dass ich mich nicht getraue aufs Fahrrad zu steigen.
Am Parkplatz auf der Nordseite sind noch etliche Leute. Auch Radfahrer sind hier. Aber ich spüre Gefahr hier oben, mir ist es nun auch richtig kalt wie im Winter und ich habe keine Jacke dabei. Ein paar Schritte und der Wind lässt nach. Ich steige aufs Fahrrad und beginne den ersten Abschnitt der Nordseite. Rechte Fuss eingeclickt, aber der linke bleibt draussen, viel stabiler wirkt es.
Und dann folgt die Abfahrt nach Maulcéne. Immer wieder schlägt der Nordwind ein, der heikelste Moment ist gerade ein Kilometer vor dem Ende. Und dann ist das Städtchen erreicht...
Ich sitze auf einer Café-Terrasse, geniesse die beste Erfindung der Vereinigten Staaten - was die Franzosen nennen "uncocá", Betonung auf der letzten Silbe. Der Sonnenschein ist heiss und äusserst willkommen: ich habe viel Kälte oben und in der Abfahrt eingenommen. Aber sobald ich mich wieder angenehm warm fühle, greift der Nordwind wieder durch, treibt Staub in die Augen der Fussgänger, wirft Restaurant-Stühle um. Dann beginnt die Erwärmung erneut...
Es ist viertel vor fünf. Auf mich wartet die neue unbekannte Auffahrt, die Nordauffahrt zurück auf den Géant. Der triplo ruft. Aber ich zögere.
Oben hatte ich Angst. Man befindet sich dort in einer Lage, in der man keine Erfahrung hat. Menschen geraten in Schwierigkeiten in den Bergen aus genau diesem Grund. Ich weiss nicht, ob der Sturm jetzt nachlässt oder ob er noch weiter zunehmen wird. Oder schon zugenommen hat?
Mangelnde Erfahrung...in Davos fuhren mal drei naive Snowboarder abseits der Piste und lösten eine grosse Lawine aus. Glücklicherweise riss der Schnee 30 Meter unterhalb der Snowboarder, die mit dem Schrecken davon kamen. Einer war ich, der Jahre später einen Wetterwechsel in Zermatt von Sonne zum Blizzard in zwei Stunden erlebte und auf dem Klein Matterhorn-Gletscher die Piste verlor.
Hier auf der Terrasse wirken diese Erfahrungen, dort oben auf dem Ventoux muss man eigentlich nicht wieder. Noch dazu war es mit lediglich neun Grad sehr kalt, in zwei Stunden wird es noch kälter sein und zudem ohne Sonne. Dann eine bitterkalte Abfahrt nach Bédoin?
Bei kalter Witterung radzufahren ist nicht unmöglich, ich habe es gern, aber es gibt ein paar Bedingungen. In der Abfahrt braucht man trockene Haut und Bekleidung. Die habe ich nicht mit dabei. Aber vor allen Dingen braucht man die absolute Kontrolle über die Situation, und die absolute Sicherheit, dass man einen warmen Unterkunft hat. In Zürich kann ich mich voll auf die Wärme der Wohnung verlassen, darum kann ich dort im Winter fahren. In den Alpen gilt das Gleiche mit den Hotels. Hier dagegen bin ich an einem Camping ohne geschlossene Räume, das Restaurant ist "open air", schon am Vorabend hatte ich kalt. Das könnte mit fortschrittlicher Müdigkeit heute Abend recht unangenehm werden.
Die Zeit vergeht und schliesslich siegt die Vernunft. Im 2005 hätte ich nicht gezögert, die Heldentat triplo zu holen. Man ändert sich halt mit den Jahren...
Hierher bin ich gekommen, um eben diese Nordauffahrt kennenzulernen. Am Schluss kenne ich sie nur als Abfahrt. Etwas genervt, zahle ich und steige aufs Rad.
Die Strasse nach Carpentras steigt sanft an ausserhalb von Maulcéne. Dann biegt die Verbindungsstrasse nach Bédoin ab.
Zur Freude ist die Strasse neulich asphaltiert und befindet sich in einem tadellosen Zustand. Vielleicht die einzige solche Strasse in der gesamten Provence? Die Strasse steigt weiterhin sehr bequem an, der Wind ist hinter mir, die Sonne vor mir. Tolle Baumarten gibt es, Arten die wir Nordeuropäer nicht kennen. Meine Laune wird immer besser.
Zudem gibt es auch ein Passschild - dies ist eine Passstrasse! Nicht einmal 450m, und so eine tolle Stimmung! Leicht senkt sich die Strasse ab, leicht steigt sie wieder an. Dann eine Linkskurve, und die gesamte Ebene hinter Bédoin ist sichtbar. Wunderschön!
Der Camping ist erreicht, ich dusche, entspanne mich, dann esse. Der Kreislauf arbeitet noch auf Hochtouren, der Apéritif wirkt wie drei Liter Bier. Essen, dann "un café monsieur?" Ich erwidere, "Oui, mais sans plomb" (bleifrei). SIe versteht nicht, ich erkläre, eben "wie Benzin" (koffeinfrei). Sie lacht recht herzlich. Jemand hat einmal gesagt, wenn eine Person lacht, sieht man direkt in den Charakter, sei die Person charmant, kalt, verbittert, rücksichtslos, ungezähmt usw.
Dann zurück zum Mini-Zelt. Der Boden ist aus steinharter Erde, die ultraleichte Matratze verliert die Luft nach einiger Zeit, aber ich schlafe beinahe ungestört. Ein toller Tag, an dem man vor allen Dingen froh ist, heil heimzukommen. Halt kein triplo...
Ich bin diese Etappe gefahren
am
Von Renko –
Mont Ventoux doppio - der Himmel
Den nächsten Tag, den Freitag, verbringe ich in Carpentras, es ist Markttag. Das Fahrrad braucht Pflege, am Nachmittag kehre ich zurück nach Bedouin, der Camping hat ein nettes, willkommenes Schwimmbad. Am Abend sagt mir der Nachbar, "demain beau temps" (morgen schönes Wetter). Ach so? "Le Mistral ne souffle plus" (der Mistral flaut ab). Oh-la-la!!
Morgen Samstag will ich ein gutes Stück zurück nach Norden fahren, übermorgen muss ich in Zürich sein, der Montag ist mit Sprachkursen gebucht. Oder: könnte ich noch die Heimreise gänzlich schaffen am Sonntag? Und nochmal den Ventoux bekämpfen?
Samstag früh ist es so weit, ich stehe vor meinem Zelt. Die Nebelglocke am Gipfel ist verschwunden. In grosser Höhe ziehen ein paar ganz dünne Schleierwolken vorüber. Aber sie sind beinahe still: le Mistral ist tatsächlich abgeflaut. Scheinbar...
Dann wieder los: diesmal über den Col de la Madeleine nach Malaucène. So ein Leckerbissen ist dieses Strässchen!
In Malaucène dann Frühstück, dann los. Nach einem Kilometer halte ich an und verstaue das Gepäck hinter einem Baum. Am Strassenrand hinterlasse ich einige Steine als Erkennungsmerkmal.
Dann endlich die letzte der drei Ventoux-Auffahrten. Das Profil ist abwechslungsreicher als die Südseite, die Ausblicke ebenfalls. Ein Radler nähert sich, wir fahren weiter zusammen, er aus Belgien. Er sei der einzige französischsprechende Belgier an seinem Camping, erzählt er...
Die Steigung nimmt zu und ich kann nicht mitmachen. Der Rythmus ist gestört, mit den kräftigen Steigungen des mittleren Abschnitts habe ich Mühe.
Dann beginnt es zu klappen, der kleine Ski-Ort ist erreicht, scharf nach rechts geht es: nun beginnen die letzten Kilometer. Ich merke, dass die 2-Stunden-Marke zu knacken wäre, also gebe ich Gas. Mit zwei Kilometern geht die Energie aus, kommt aber wieder, ich gebe alles was ich habe, und komme am Gipfel an in drei Minuten weniger als zwei Stunden.
Den Belgier habe ich kurz vor dem Ende überholt, ich schiesse ein paar Fotos von ihm und verspreche, sie zu mailen. Der Blick nach Süden ist uneingeschränkt und auch ziemlich dunstfrei. Bedouin ist da unten. Einfach spektakulär!
Ich hole ein Cola, dann kehre zum Fahrrad zurück und geniesse die Ausblicke.
Dann beginnt die Abfahrt nach Bedouin erneut. Das Fahrrad benimmt sich ein wenig seltsam. Nicht der später entdeckte Rahmenriss, sondern die hintere Reife verliert Luft. Am Châlet halte ich an und wechsele den Schlauch. Für die Abfahrt liegt entsprechend kein wildes Fahren drin.
In Bedouin ist der Radladen noch geöffnet, die Stehpumpe darf ich benützen. Mich erstaunt es immer wieder die Grosszügigkeit unter Radlern, und zwischen Radlern und den Läden. Wie oft hat man schon Hilfe oder Ersatzteile gratis bekommen?
Dann ein kleines Mittagessen: die üblichen kleinen Pizza-Stücke aus der Bäckerei. Dan wieder los. Wieder das lockere Einführungsstück, dann das Kernstück im Wald. Weiter oben suchen Fliegen die Feuchte meiner Nasenröhren, vertreiben lassen sie sich nicht, da kehren sie immer wieder zurück. Pfui...
Wieder am Châlet, jede Menge Leute, kurze Unterbrechung, etwas Stretching, dann weiter. Ventoux zum zweiten Male.
Langsam und bequem fahre ich die Strecke hoch zum sommet. Ist dies wirklich die gleiche Strecke wie vor zwei Tagen, als der Mistral ausser Kontrolle zu geraten schien? Kaum eine Briese heute, fast Windstille.
Langsam macht sich ein altes bekanntes Gefühl bemerkbar: ich meine, die Wände des (leeren) Magens spüren zu können: es ist der Beginn einer Hungerkrise. Oder, wie es in Amerikanisch-Englisch heisst, hitting the wall. Aber es sind nur mehr zwei Kilometer bis zum Gipfel, in milderer Unbequemlichkeit rolle ich den letzten Abschnitt hoch, die letzte Kehre, dann die Rampe hoch zum Kiosk.
Wieder uncocá, die zwei Mädels erkennen mich, ich meine dass heute sicher die Hölle los gewesen sei. Sie erwidern negativ, die Gäste wechselten samstags, es sei deswegen ruhiger. Das sei ihnen auch recht. Ich kann nur schmunzeln, da war ich auch früher in der Gastronomie tätig. Gemeinsamer Humor?
Draussen gibt es einen Stand mit Wurst aus einheimischer Produktion, und auch leckere zuckrige Bonbons - ideal für den hungrigen Radler. Dann sitze ich auf dem Asphalt, Rücken gegen die niedrige Stutzmauer oberhalb der unteren Strasse.
Die Ausblicke sind einfach atemberaubend, wenn etwas dunstiger als am Vormittag. Die Vistas trotzdem beinahe grenzenlos. Die Strasse hat nur wenige Autos, noch ziemlich viele Radler unterwegs nach oben. Ein paar Leute sind an der Strassenseite etwa ein Kilometer unten.
Wunderbar ist diese provençalische Landschaft, die Ausblicke auf die niedrigen Hügelketten weit südlich von Bédoin. Die Landschaft wirkt deutlich anders als die Tiefebenen nördlich und auch südlich der Alpen. Als befände man sich bereits in einer anderen klimatischen Zone.
Mich estaunt es wiedereinmal, welch eine grosse Wirkung die Alpen haben, und zwar auf das Klima, auf die Vegetation, auf die Völker. Aber nicht immer auf die Völker...die Worte einer aus dem fernen Passeiertal stammenden Politikerin kommen wieder in den Sinn, die mal schrieb, die Bergler hätten die Alpen nie als Trennlinie, sondern als Verbindung mit einander verstanden. Und die Fakten beweisen die Aussage: Tiroler beiderseits des Brenners, Italiener beiderseits des Septimerpasses, provençal-französische Ortsnamen vom Col du Montgenevre bis nach Susa, gar nicht mehr so weit von Turin entfernt! Die Alpen liessen die Leute stets durch, aber das Klima und die Vegetation trennen sie.
Zehn Minuten später sind immer noch Leute ein Kilometer entfernt. Dann fällt es mir plötzlich ein: es ist das Denkmal zu Tom Simpson. Und die Erkenntnis: Tom war so sehr nahe am Ziel!! Ein Kilometer zuvor soll er seine traurige Schlangenfahrt begonnen haben, dort beim Denkmal hätte er nicht einmal einen Kilometer mehr zum Übergang in die Abfahrt gehabt! Es ist einfach eine schockierende Erkenntnis! In der Auffahrt merkt man das gar nicht, ein steiler Kilometer kann schon sehr lange wirken. Hier oben sitzend, an diesem klaren Tag, scheint es wie nichts.
Ich frage mich, was passiert wäre wenn er am Brunnen in Bédoin getrunken hätte, oder früher nachgelassen hätte, etwas Vernunft durch die Mordhitze in sein brennendes Gehirn eingegangen wäre, oder er bessere Medikamente gegen seine Mageninfektion erhalten hätte? Wenn die dumme Direktion von le Tour nicht eine Regel von nur vier Bidons pro Fahrer pro Etappe erhängt hätte? Wenn seine letzten Energien nicht zwei oder ein Kilometer aufgebraucht worden wären, sondern am Sommet? Jeder Radler muss auch mal gespürt haben, wie der Schmerz, der Druck, diese ungeheure Belastung in der Auffahrt auf einmal verschwindet sobald die Passhöhe erreicht ist? Wie schnell der Körper sich zu erholen scheint?
Hätte Tom, unser working class hero doch noch den sommet erreicht, hätte die Druckabnahme neue Energien freigesetzt? Und wäre Tom in der folgenden Abfahrt, mit der Befreiung von der teuflischen Sahara-Hitze, wieder einigermassen lebendig geworden? Wäre er schliesslich zehnter geworden beim Ziel in Carpentras, und heute in seinen Memoiren über den höllischen Tag am Mont Ventoux schreiben, als er zu halluzinieren begann und nicht mehr damit rechnete den Berg zu bezwingen?
Und würden wir Leser nicht das Ganze einfach wirklich wahnsinnig toll und spannend finden? Oder es als typische literarische Übertreibung bewerten?
Tom starb in der Hölle jenes Tages, als Temperaturen in der Provence von 40 Grad gemessen wurden. Ein französischer Journalist hat die Bedingungen so beschrieben:
C'est un sort de cauchemare...un paysage lunaire...la châleur est un peu crematoire
Ein paar Meter weiter, da hätte er den Berg beseigt, hätte in der Abfahrt neue Energien gefunden, und doch noch einen respektablen Platz gefunden. Ich bin mir irgendwie davon sicher. Die Entfernung zwischen Leben und Tod, oder hier zwischen Tod und weiterem Erfolg, wirkt hier am Mont Ventoux furchtbar nahe...auf Messers Schneide! Noch ein paar Meter weiter, und man kommt durch. Aber ein paar Meter zu kurz, da gehen die Hoffnungen verloren!
Hoffnungen... espoirs...zwei Wochen zuvor war ich am Col de Monte in den Pyrenäen, dort gibt es ein Plakat, ehrt einem Radler, der schwer stürzte und alle seine Hoffnungen verlor. Eddy Mercx war besiegt, aber der Gewinner stürzte schwer, und der erfolgreiche Belgier sollte le Tour quasi geschenkt bekommen. Das Opfer starb nicht, aber Tom schon. Leicht geändert, wäre es der perfekte Epitaph für Pit-Village-Tom:
Tragédie dans le Tour de France!!
Sur cette route, transformée en torrent de feu
par une châleur d'apocalypse,
Tom Simpson, Champion du Monde,
abandonnait tous ses espoirs
contre cettes pierres
Und das lustige ist, alle reden über ihn! Die Leute am Camping, hauptsächlich Holländer und Belgier, da ist sein Name sehr schnell im Gespräch. Die Engländer sowieso. Und auch die Franzosen, bei denen er damals sehr positiv empfangen und geschätzt gewesen sein soll, reden über den charmant klingenden Tomsimsón. Die Radler der letzten Jahre fallen einer nach dem anderen in Ungnade, als ihre Dopingsünden bekannt werden, als le dopage wieder sein übles Gesicht zeigt.. Tom war der erste entlarvte Sünder, aber man scheint ihm vergeben zu haben. Mag man ihn, weil er immer wieder für eine Attacke in Etappen gut war? Weil er ein working class hero war, der salt of the earth? Weil der Ort des Unglücks, am gefürchteten Ventoux, und eben ganz wenig unterhalb seines Gipfels, dramatischer einfach nicht hätte sein können?
.............................................
Das ist der Mont Ventoux. 2005 kam ich hoch und hatte gefühlsmässig kaputte Oberschenkel. Heute dagegen sitze ich oben, habe schon 3'500Hm in den Beinen. Nie liessen sich die Höhenmeter so locker ansammeln wie heute. Kein Schmerz, keine Müdigkeit, nichts. Ich wage sogar zu behaupten, die Höhenmeter lassen sich hier so einfach wie sonst nirgendwo in den Alpen anhaufen. Der Berg liegt nicht in weiter, unerreichbarer Ferne wie der Galibier, sondern bleibt stets im Zentrum der Tagestour, man fährt ihn hoch, man kann jederzeit abbrechen, die drei Ausgangspunkte sind alle mit deutlich einfacheren Strassen miteinander verbunden. Nie ist er steiler als 12%, besonders die Südseite hat eine ausserordentlich konstante Steigung. Zuerst 3%, dann 10%, dann 7%, dann sommet.
Der einfache, locker zu fahrende Ventoux. Der Berg, der so einfach ist, dass auf dessen sommet eine Frau gestorben ist, weil der Orkan nicht nur Staub transportierte, sondern Steine!
So einfach, dass in zwei von drei Tagen Geschwindigkeiten von über 80 km/h gemessen werden. Wo sonst in Europa sind Windspitzen von 320 km/h gemessen worden?
So einfach, dass im 1955 der Radprofi Malléjac bewusstlos zusammenbrach und nur durch die rasche Hilfe des Tourarztes gerettet werden konnte. Der vollkommen durchgedrehte Radler soll im Krankenwagen den Kurbel weiter gedreht haben, als sei er noch im Sattel, und beendete anschliessend seine Radkarriere.
So einfach ist der Ventoux, dass am gleichen Tag der Schweizer Radlegende, Ferdi Kubler, durch die Mordhitze am Ende seiner Kräfte, zweimal in der Abfahrt nach Malaucène stürzte, und war in Avignon nicht mehr imstande, das Ziel ohne die Hilfe der Zuschauer zu finden. Am nächsten Tag packte Ferdi seine Taschen und fuhr danach ebenfalls nie mehr Radrennen. An der Pressekonferenz vor der Abreise zurück in die Schweiz sagte Ferdi die legendären Wörter: "Mont Ventoux, il a tué Ferdi"
So einfach ist der Ventoux, dass im 1970 der dominante Eddy Mercx zwar auf dem Berg siegte, dann aber ebenfalls zusammenbrach und mit Sauerstoff reanimiert werden musste.
Und so einfach, dass der spätere Dominator, Lance Armstrong, der nie auf dem Ventoux zu gewinnen vermochte, weder in le Tour, noch in andern Events. Wie er auch berühmt sagte, "Mont Ventoux doesn't like Lance Armstrong".
Und fuhr fort: "Nineteen hundred meters up there is completely different from 1,900m any place else. There's no air, there's no oxygen. There's no vegetation, there's no life. There's no life. Rocks. Any other climb there's vegetation, grass and trees. Not there on the Ventoux. It's more like the moon than a mountain."
Und so einfach, dass auch Hobby-Radler ihr Waterloo erlebt haben. Herzinfarkte soll es gegeben haben, ein Franzose erzählte mir von einem Radler, der eine der Kurven übersah oder vom Wind überrascht wurde und sich beim Sturz auf die spitzigen Steine der Steinwüste schwere Gesichtsverletzungen zugezogen hat. Mont Ventoux hinterlässt auch Narben...
Man sagt, wer beim ersten Casino-Besuch gewinnt, der verliert schliesslich am meisten. Wer beim ersten Besuch am Ventoux einen Prachttag erwischt wie heute, der wird das zweite Mal übersicher in den Berg fahren und möglicherweise durch komplett andere Bedingungen eine böse Überraschung bekommen. Wer dagegen sich bereits über die verschiedensten Gesichte dieses Bergs informiert hat, der wird ruhiger, sicherer, selbstbewusster hochfahren. Alles nach dem englischen Motto: "forewarned is forearmed".
Den leitenden Schlusskommentar zum Mont Ventoux bietet meines Erachtens der Amerikaner Tyler Hamilton:
"You need to ride within yourself - some climbs you can attack at the bottom and hold it all the way to the top, but this is a climb that I think you need to ride definitely within your limits".
Den nächsten Tag, den Freitag, verbringe ich in Carpentras, es ist Markttag. Das Fahrrad braucht Pflege, am Nachmittag kehre ich zurück nach Bedouin, der Camping hat ein nettes, willkommenes Schwimmbad. Am Abend sagt mir der Nachbar, "demain beau temps" (morgen schönes Wetter). Ach so? "Le Mistral ne souffle plus" (der Mistral flaut ab). Oh-la-la!!
Morgen Samstag will ich ein gutes Stück zurück nach Norden fahren, übermorgen muss ich in Zürich sein, der Montag ist mit Sprachkursen gebucht. Oder: könnte ich noch die Heimreise gänzlich schaffen am Sonntag? Und nochmal den Ventoux bekämpfen?
Samstag früh ist es so weit, ich stehe vor meinem Zelt. Die Nebelglocke am Gipfel ist verschwunden. In grosser Höhe ziehen ein paar ganz dünne Schleierwolken vorüber. Aber sie sind beinahe still: le Mistral ist tatsächlich abgeflaut. Scheinbar...
Dann wieder los: diesmal über den Col de la Madeleine nach Malaucène. So ein Leckerbissen ist dieses Strässchen!
In Malaucène dann Frühstück, dann los. Nach einem Kilometer halte ich an und verstaue das Gepäck hinter einem Baum. Am Strassenrand hinterlasse ich einige Steine als Erkennungsmerkmal.
Dann endlich die letzte der drei Ventoux-Auffahrten. Das Profil ist abwechslungsreicher als die Südseite, die Ausblicke ebenfalls. Ein Radler nähert sich, wir fahren weiter zusammen, er aus Belgien. Er sei der einzige französischsprechende Belgier an seinem Camping, erzählt er...
Die Steigung nimmt zu und ich kann nicht mitmachen. Der Rythmus ist gestört, mit den kräftigen Steigungen des mittleren Abschnitts habe ich Mühe.
Dann beginnt es zu klappen, der kleine Ski-Ort ist erreicht, scharf nach rechts geht es: nun beginnen die letzten Kilometer. Ich merke, dass die 2-Stunden-Marke zu knacken wäre, also gebe ich Gas. Mit zwei Kilometern geht die Energie aus, kommt aber wieder, ich gebe alles was ich habe, und komme am Gipfel an in drei Minuten weniger als zwei Stunden.
Den Belgier habe ich kurz vor dem Ende überholt, ich schiesse ein paar Fotos von ihm und verspreche, sie zu mailen. Der Blick nach Süden ist uneingeschränkt und auch ziemlich dunstfrei. Bedouin ist da unten. Einfach spektakulär!
Ich hole ein Cola, dann kehre zum Fahrrad zurück und geniesse die Ausblicke.
Dann beginnt die Abfahrt nach Bedouin erneut. Das Fahrrad benimmt sich ein wenig seltsam. Nicht der später entdeckte Rahmenriss, sondern die hintere Reife verliert Luft. Am Châlet halte ich an und wechsele den Schlauch. Für die Abfahrt liegt entsprechend kein wildes Fahren drin.
In Bedouin ist der Radladen noch geöffnet, die Stehpumpe darf ich benützen. Mich erstaunt es immer wieder die Grosszügigkeit unter Radlern, und zwischen Radlern und den Läden. Wie oft hat man schon Hilfe oder Ersatzteile gratis bekommen?
Dann ein kleines Mittagessen: die üblichen kleinen Pizza-Stücke aus der Bäckerei. Dan wieder los. Wieder das lockere Einführungsstück, dann das Kernstück im Wald. Weiter oben suchen Fliegen die Feuchte meiner Nasenröhren, vertreiben lassen sie sich nicht, da kehren sie immer wieder zurück. Pfui...
Wieder am Châlet, jede Menge Leute, kurze Unterbrechung, etwas Stretching, dann weiter. Ventoux zum zweiten Male.
Langsam und bequem fahre ich die Strecke hoch zum sommet. Ist dies wirklich die gleiche Strecke wie vor zwei Tagen, als der Mistral ausser Kontrolle zu geraten schien? Kaum eine Briese heute, fast Windstille.
Langsam macht sich ein altes bekanntes Gefühl bemerkbar: ich meine, die Wände des (leeren) Magens spüren zu können: es ist der Beginn einer Hungerkrise. Oder, wie es in Amerikanisch-Englisch heisst, hitting the wall. Aber es sind nur mehr zwei Kilometer bis zum Gipfel, in milderer Unbequemlichkeit rolle ich den letzten Abschnitt hoch, die letzte Kehre, dann die Rampe hoch zum Kiosk.
Wieder uncocá, die zwei Mädels erkennen mich, ich meine dass heute sicher die Hölle los gewesen sei. Sie erwidern negativ, die Gäste wechselten samstags, es sei deswegen ruhiger. Das sei ihnen auch recht. Ich kann nur schmunzeln, da war ich auch früher in der Gastronomie tätig. Gemeinsamer Humor?
Draussen gibt es einen Stand mit Wurst aus einheimischer Produktion, und auch leckere zuckrige Bonbons - ideal für den hungrigen Radler. Dann sitze ich auf dem Asphalt, Rücken gegen die niedrige Stutzmauer oberhalb der unteren Strasse.
Die Ausblicke sind einfach atemberaubend, wenn etwas dunstiger als am Vormittag. Die Vistas trotzdem beinahe grenzenlos. Die Strasse hat nur wenige Autos, noch ziemlich viele Radler unterwegs nach oben. Ein paar Leute sind an der Strassenseite etwa ein Kilometer unten.
Wunderbar ist diese provençalische Landschaft, die Ausblicke auf die niedrigen Hügelketten weit südlich von Bédoin. Die Landschaft wirkt deutlich anders als die Tiefebenen nördlich und auch südlich der Alpen. Als befände man sich bereits in einer anderen klimatischen Zone.
Mich estaunt es wiedereinmal, welch eine grosse Wirkung die Alpen haben, und zwar auf das Klima, auf die Vegetation, auf die Völker. Aber nicht immer auf die Völker...die Worte einer aus dem fernen Passeiertal stammenden Politikerin kommen wieder in den Sinn, die mal schrieb, die Bergler hätten die Alpen nie als Trennlinie, sondern als Verbindung mit einander verstanden. Und die Fakten beweisen die Aussage: Tiroler beiderseits des Brenners, Italiener beiderseits des Septimerpasses, provençal-französische Ortsnamen vom Col du Montgenevre bis nach Susa, gar nicht mehr so weit von Turin entfernt! Die Alpen liessen die Leute stets durch, aber das Klima und die Vegetation trennen sie.
Zehn Minuten später sind immer noch Leute ein Kilometer entfernt. Dann fällt es mir plötzlich ein: es ist das Denkmal zu Tom Simpson. Und die Erkenntnis: Tom war so sehr nahe am Ziel!! Ein Kilometer zuvor soll er seine traurige Schlangenfahrt begonnen haben, dort beim Denkmal hätte er nicht einmal einen Kilometer mehr zum Übergang in die Abfahrt gehabt! Es ist einfach eine schockierende Erkenntnis! In der Auffahrt merkt man das gar nicht, ein steiler Kilometer kann schon sehr lange wirken. Hier oben sitzend, an diesem klaren Tag, scheint es wie nichts.
Ich frage mich, was passiert wäre wenn er am Brunnen in Bédoin getrunken hätte, oder früher nachgelassen hätte, etwas Vernunft durch die Mordhitze in sein brennendes Gehirn eingegangen wäre, oder er bessere Medikamente gegen seine Mageninfektion erhalten hätte? Wenn die dumme Direktion von le Tour nicht eine Regel von nur vier Bidons pro Fahrer pro Etappe erhängt hätte? Wenn seine letzten Energien nicht zwei oder ein Kilometer aufgebraucht worden wären, sondern am Sommet? Jeder Radler muss auch mal gespürt haben, wie der Schmerz, der Druck, diese ungeheure Belastung in der Auffahrt auf einmal verschwindet sobald die Passhöhe erreicht ist? Wie schnell der Körper sich zu erholen scheint?
Hätte Tom, unser working class hero doch noch den sommet erreicht, hätte die Druckabnahme neue Energien freigesetzt? Und wäre Tom in der folgenden Abfahrt, mit der Befreiung von der teuflischen Sahara-Hitze, wieder einigermassen lebendig geworden? Wäre er schliesslich zehnter geworden beim Ziel in Carpentras, und heute in seinen Memoiren über den höllischen Tag am Mont Ventoux schreiben, als er zu halluzinieren begann und nicht mehr damit rechnete den Berg zu bezwingen?
Und würden wir Leser nicht das Ganze einfach wirklich wahnsinnig toll und spannend finden? Oder es als typische literarische Übertreibung bewerten?
Tom starb in der Hölle jenes Tages, als Temperaturen in der Provence von 40 Grad gemessen wurden. Ein französischer Journalist hat die Bedingungen so beschrieben:
C'est un sort de cauchemare...un paysage lunaire...la châleur est un peu crematoire
Ein paar Meter weiter, da hätte er den Berg beseigt, hätte in der Abfahrt neue Energien gefunden, und doch noch einen respektablen Platz gefunden. Ich bin mir irgendwie davon sicher. Die Entfernung zwischen Leben und Tod, oder hier zwischen Tod und weiterem Erfolg, wirkt hier am Mont Ventoux furchtbar nahe...auf Messers Schneide! Noch ein paar Meter weiter, und man kommt durch. Aber ein paar Meter zu kurz, da gehen die Hoffnungen verloren!
Hoffnungen... espoirs...zwei Wochen zuvor war ich am Col de Monte in den Pyrenäen, dort gibt es ein Plakat, ehrt einem Radler, der schwer stürzte und alle seine Hoffnungen verlor. Eddy Mercx war besiegt, aber der Gewinner stürzte schwer, und der erfolgreiche Belgier sollte le Tour quasi geschenkt bekommen. Das Opfer starb nicht, aber Tom schon. Leicht geändert, wäre es der perfekte Epitaph für Pit-Village-Tom:
Tragédie dans le Tour de France!!
Sur cette route, transformée en torrent de feu
par une châleur d'apocalypse,
Tom Simpson, Champion du Monde,
abandonnait tous ses espoirs
contre cettes pierres
Und das lustige ist, alle reden über ihn! Die Leute am Camping, hauptsächlich Holländer und Belgier, da ist sein Name sehr schnell im Gespräch. Die Engländer sowieso. Und auch die Franzosen, bei denen er damals sehr positiv empfangen und geschätzt gewesen sein soll, reden über den charmant klingenden Tomsimsón. Die Radler der letzten Jahre fallen einer nach dem anderen in Ungnade, als ihre Dopingsünden bekannt werden, als le dopage wieder sein übles Gesicht zeigt.. Tom war der erste entlarvte Sünder, aber man scheint ihm vergeben zu haben. Mag man ihn, weil er immer wieder für eine Attacke in Etappen gut war? Weil er ein working class hero war, der salt of the earth? Weil der Ort des Unglücks, am gefürchteten Ventoux, und eben ganz wenig unterhalb seines Gipfels, dramatischer einfach nicht hätte sein können?
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Das ist der Mont Ventoux. 2005 kam ich hoch und hatte gefühlsmässig kaputte Oberschenkel. Heute dagegen sitze ich oben, habe schon 3'500Hm in den Beinen. Nie liessen sich die Höhenmeter so locker ansammeln wie heute. Kein Schmerz, keine Müdigkeit, nichts. Ich wage sogar zu behaupten, die Höhenmeter lassen sich hier so einfach wie sonst nirgendwo in den Alpen anhaufen. Der Berg liegt nicht in weiter, unerreichbarer Ferne wie der Galibier, sondern bleibt stets im Zentrum der Tagestour, man fährt ihn hoch, man kann jederzeit abbrechen, die drei Ausgangspunkte sind alle mit deutlich einfacheren Strassen miteinander verbunden. Nie ist er steiler als 12%, besonders die Südseite hat eine ausserordentlich konstante Steigung. Zuerst 3%, dann 10%, dann 7%, dann sommet.
Der einfache, locker zu fahrende Ventoux. Der Berg, der so einfach ist, dass auf dessen sommet eine Frau gestorben ist, weil der Orkan nicht nur Staub transportierte, sondern Steine!
So einfach, dass in zwei von drei Tagen Geschwindigkeiten von über 80 km/h gemessen werden. Wo sonst in Europa sind Windspitzen von 320 km/h gemessen worden?
So einfach, dass im 1955 der Radprofi Malléjac bewusstlos zusammenbrach und nur durch die rasche Hilfe des Tourarztes gerettet werden konnte. Der vollkommen durchgedrehte Radler soll im Krankenwagen den Kurbel weiter gedreht haben, als sei er noch im Sattel, und beendete anschliessend seine Radkarriere.
So einfach ist der Ventoux, dass am gleichen Tag der Schweizer Radlegende, Ferdi Kubler, durch die Mordhitze am Ende seiner Kräfte, zweimal in der Abfahrt nach Malaucène stürzte, und war in Avignon nicht mehr imstande, das Ziel ohne die Hilfe der Zuschauer zu finden. Am nächsten Tag packte Ferdi seine Taschen und fuhr danach ebenfalls nie mehr Radrennen. An der Pressekonferenz vor der Abreise zurück in die Schweiz sagte Ferdi die legendären Wörter: "Mont Ventoux, il a tué Ferdi"
So einfach ist der Ventoux, dass im 1970 der dominante Eddy Mercx zwar auf dem Berg siegte, dann aber ebenfalls zusammenbrach und mit Sauerstoff reanimiert werden musste.
Und so einfach, dass der spätere Dominator, Lance Armstrong, der nie auf dem Ventoux zu gewinnen vermochte, weder in le Tour, noch in andern Events. Wie er auch berühmt sagte, "Mont Ventoux doesn't like Lance Armstrong".
Und fuhr fort: "Nineteen hundred meters up there is completely different from 1,900m any place else. There's no air, there's no oxygen. There's no vegetation, there's no life. There's no life. Rocks. Any other climb there's vegetation, grass and trees. Not there on the Ventoux. It's more like the moon than a mountain."
Und so einfach, dass auch Hobby-Radler ihr Waterloo erlebt haben. Herzinfarkte soll es gegeben haben, ein Franzose erzählte mir von einem Radler, der eine der Kurven übersah oder vom Wind überrascht wurde und sich beim Sturz auf die spitzigen Steine der Steinwüste schwere Gesichtsverletzungen zugezogen hat. Mont Ventoux hinterlässt auch Narben...
Man sagt, wer beim ersten Casino-Besuch gewinnt, der verliert schliesslich am meisten. Wer beim ersten Besuch am Ventoux einen Prachttag erwischt wie heute, der wird das zweite Mal übersicher in den Berg fahren und möglicherweise durch komplett andere Bedingungen eine böse Überraschung bekommen. Wer dagegen sich bereits über die verschiedensten Gesichte dieses Bergs informiert hat, der wird ruhiger, sicherer, selbstbewusster hochfahren. Alles nach dem englischen Motto: "forewarned is forearmed".
Den leitenden Schlusskommentar zum Mont Ventoux bietet meines Erachtens der Amerikaner Tyler Hamilton:
"You need to ride within yourself - some climbs you can attack at the bottom and hold it all the way to the top, but this is a climb that I think you need to ride definitely within your limits".
Ich bin diese Etappe gefahren
am